Ein Lexikon der Suchvoschläge

Anmerkung für die Leser der Zukunft

Seit ungefähr zwanzig Jahren benutzen wir Suchmaschinen, um Informationen im Internet zu finden. Mit ihrer Hilfe erfahren wir, wann die nächste Bahn fährt, wie lange die Reise von A nach B dauert und was dort im Theater gespielt wird. Die Suchmaschine eliminiert Ungewissheit, sie macht uns bequem und sie verführt uns, Fragen zu stellen, die wir uns in Gesellschaft eher verkneifen würden. Wer beispielsweise wissen möchte, ob blonde Frauen dumm, ob Ausländer kriminell oder Linkshänder schwul sind, befragt schamlos und anonym die Suchmaschine. Im Internet finden wir Antworten auf alle Fragen, die wir ohne Suchmaschine nicht gestellt hätten.
Schon während wir unsere Frage formulieren, vollendet sie ein im Hintergrund tätiger Algorithmus und zeigt Suchvorschläge an, die auf den gesammelten Suchaktivitäten anderer Nutzer basieren. Sodann präsentiert uns die Suchmaschine eine Liste von Quellen, in denen wir Antworten finden können, wobei häufiger konsultierte Quellen an erster Stelle platziert werden. Nicht Kompetenz, sondern Popularität entscheidet über die Reihenfolge. Dies mag bei praktischen Auskünften der Effektivität und Bequemlichkeit dienen, hat aber eine beachtliche Nebenwirkung. Für Fragen, die Wertungen betreffen, bestätigt die Liste der Suchergebnisse genau die Vorurteile, die ein unvoreingenommen Suchender vielleicht in Frage stellen möchte. Wer fragt, ob irgendeine verhasste Gruppe von Menschen schuld an diesem oder an jenem ist, wird die Annahme sofort bestätigt finden. Das Instrument, das Ignoranz und Irrtum beseitigen sollte, verfestigt diese eher.
Um herauszufinden, welche Suchvorschläge die am häufigsten formulierten Anfragen meiner Mitmenschen generierten, befragte ich die populärste Suchmaschine nach vermeintlichen Eigenschaften von Bevölkerungsgruppen, die durch Weltanschauung, Beruf, Herkunft, Geschlecht oder andere gemeinsame Merkmale definiert sind. In ihrer Summe liefert meine Studie eine Momentaufnahme populärer Annahmen, Verallgemeinerungen und Vorurteile, kollektiver Ängste und Neurosen. Es ist dies eine Bestandsaufnahme der Gegenwart, so unheimlich, als ob man den Deckel vom deutschen Hirn gehoben und ins Innere geblickt hätte. Das Staunen über viele Fragen konkurriert mit dem über das zu konstatierende Ausmaß der versammelten Ignoranz. Ganz nebenbei eröffnet sich ein Blick auf den Kampf der Suchenden mit der Suchmaschine sowie auf deren recht aussichtslosen Kampf mit der Mehrdeutigkeit von Sprache.
Ich habe dieses Experiment Anfang des Jahres 2017 durchgeführt. Bei einer Wiederholung zu einem späteren Zeitpunkt werden die Ergebnisse sehr wahrscheinlich unterschiedlich sein. Neue Ideen und Techniken werden neue Probleme schaffen, zeitgebundene Erscheinungen der Populärkultur werden durch andere verdrängt worden sein, noch unbekannte Akteure werden die Bühne betreten haben, manche Vorurteile werden sich verflüchtigt haben, neue werden entstanden sein. Die Rolle der Suchmaschinen im Prozess der permanenten Erneuerung des Wissens und der Meinungen wird weiter zu befragen sein. Aber auch die Suchmaschinen selbst werden sich verändern. Für Leser einer weiter entfernten Zukunft wird das Phänomen der Suchvorschläge vielleicht nichts anderes sein als eine der vielen Merkwürdigkeiten einer vergangenen Welt.
JS, Januar 2017

Nachwort zu meinem Buch sind wir dumm – Ein Lexikon der Suchvoschläge